Warum manche Erkrankungen auch in bestehenden Verträgen zu spürbaren Lücken führen kann

Für Menschen mit schweren oder chronischen Erkrankungen stellt sich beim Thema Versicherungen meist die Frage, ob der Abschluss eines neuen Vertrages noch möglich ist. Jedoch führt eine Besonderheit in der privaten Unfallversicherung dazu, dass auch bereits bestehende Verträge noch einmal sehr genau angeschaut werden sollten – und sei es nur, damit man im Leistungsfall vorbereitet ist.

Denn anders als beispielsweise in der Berufsunfähigkeits- oder Krankenversicherung, wo der Versicherer nur einmal Gesundheitsfragen stellen kann und es danach (während der Vertrag läuft) allein sein Risiko ist, ob der Gesundheitszustand des Versicherten sich verschlechtert, kennt die Unfallversicherung mit der so genannten „Mitwirkungsklausel“ eine kaum bekannte Besonderheit.

 

Warum die Mitwirkungsklausel so problematisch ist

Eine private Unfallversicherung leistet – in der Regel als Einmalzahlung – eine Versicherungssumme, wenn aus einem Unfallereignis ein dauerhafter körperlicher Schaden, eine (Teil-)Invalidität hervorgeht. Nicht der Unfall selbst, sondern eine daraus resultierende körperliche Einschränkung ist also der Versicherungsfall. Doch diese steht nicht immer sofort fest. Vielmehr kann oft erst nach einer längeren Zeit der Heilbehandlung deutlich werden, dass beispielsweise ein Körperteil nicht mehr zu alter Einsatzfähigkeit gelangen oder sogar ganz verloren sein wird. In der Regel geht einer Feststellung der dauerhaften Invalidität also ein Heilungsprozess voraus. Weist ein Mensch aber zum Zeitpunkt des Unfalls eine bestimmte Erkrankung auf, die sich nachteilig auf den normalen Genesungsprozess des Körpers auswirkt, so kann die zurückbleibende Invalidität stärker sein oder größere Teile des Körpers betreffen als dies ohne diese bestimmte Erkrankung der Fall gewesen wäre. Und genau hier setzt die so genannte Mitwirkungsklausel an: Sie versucht, den Versicherer so zu stellen, als sei der Unfall einer vollständig gesunden Person wiederfahren, und will die mitwirkende bestimmte Erkrankung gewissermaßen heraus rechnen.

In den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) der meisten Gesellschaften liest sich das dann so:

Welche Auswirkung haben Krankheiten oder Gebrechen?

Als Unfallversicherer leisten wir für Unfallfolgen. Haben Krankheiten oder Gebrechen bei der durch ein Unfallereignis verursachten Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, mindert sich
- im Falle einer Invalidität der Prozentsatz des Invaliditätsgrades,
- im Todesfall und, soweit nichts anderes bestimmt ist, in allen anderen Fällen die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens.

Beträgt der Mitwirkungsanteil weniger als 25%, unterbleibt jedoch die Minderung.

 

Lässt man einmal außer Acht, dass die meisten Menschen beim Abschluss ihrer Unfallversicherung überhaupt nicht darauf aufmerksam gemacht werden, dass dieser Fall eintreten kann, klingt die Klausel für sich genommen erst einmal nicht so dramatisch. Wurde nach einem Unfall zum Beispiel durch die Mitwirkung anderer Erkrankungen (auch wenn diese bei Abschluss der Versicherung noch nicht bestanden) die Heilung einer Verletzung negativ beeinflusst und blieb im Ergebnis eine Invalidität zurück, die 30 % stärker ausfiel als bei einer vollständig gesunden Person, so soll der Versicherer für diese „Mehrinvalidität“ von 30 % nicht einstehen müssen, weil sie mit dem Unfall und seinen üblichen Folgen nichts zu tun hat.

Doch diese 30 % bewirken in der Praxis eine deutlich höhere Kürzung der Leistung. Um das zu verdeutlichen, wird es im Folgenden kurz ein bisschen mathematisch.

 

Wie ein Unfallversicherer die Leistung berechnet

Wird als Folge eines Unfalls ärztlich eine bleibende Invalidität festgestellt, so ermittelt der Versicherer anhand einer so genannten Gliedertaxe den Gesamtgrad der Invalidität. Dabei werden einzelne Körperteile mit einem Prozentsatz versehen. Ist ein Körperteil gar nicht mehr einsatzfähig, gilt der volle Prozentsatz, ist er nur noch zur Hälfte einsatzfähig, der halbe Prozentsatz usw. Schließlich werden alle Körperteile (Prozentsätze) addiert, und heraus kommt eine Gesamtinvalidität.

Hätte Person A beispielsweise eine einfache Unfallversicherung mit einer Grundsumme von 100.000 Euro und würden 40 % Gesamtinvalidität festgestellt, so würde er (ohne Mitwirkung) 40.000 Euro an Versicherungsleistung erhalten.

Was nun, wenn 30 % Mitwirkung festgestellt wurden? In diesem Fall würde gemäß des Wortlauts der Klausel „der Prozentsatz des Invaliditätsgrades“ gemindert (wir werden später sehen, warum dies so entscheidend ist). Die 30 % reduzieren also nicht die Versicherungsleistung, sondern die zugrunde liegende Gesamtinvalidität: 40 % vermindert um 30 % (bzw. 70 % von 40 %) sind 28 %. Also nur 28.000 Euro Versicherungsleistung – immerhin 12.000 Euro weniger. Und das, obwohl A bei der Antragstellung völlig gesund war (sonst hätte es im Zweifel gar keinen Versicherungsvertrag gegeben). Nun mag man einen solchen Abschlag noch für verkraftbar halten, doch in den meisten Fällen wird die Kürzung erheblich schmerzhafter ausfallen.

 

Große Wirkung bei Progressionstarifen

Denn nur die wenigsten Versicherten haben einen einfachen Unfalltarif. Deutlich verbreiteter sind die so genannten Progressionstarife, die für vergleichsweise geringe Beiträge sehr hohe Leistungen versprechen: so zahlt ein Tarif mit 500 % Progression beispielsweise bei 100 % Invalidität die fünffache Grundsumme der Versicherung: statt 100.000 Euro also 500.000 Euro. Das klingt meist überzeugend, verleitet aber dazu, um etwas Geld zu sparen, nicht 100.000 Euro zu versichern (im Hinterkopf: 500.000 Euro), sondern vielleicht nur 50.000 Euro (im Hinterkopf: 250.000 Euro).

Jedoch wird hier gerne die Berechnung dieser Progression übersehen (oder gar nicht erst erklärt). Und diese Berechnung ist wichtig, um zu erkennen, was für ein Loch die allgemeine Mitwirkungsklausel in den Versicherungsschutz reißen kann.

Angenommen, die Versicherten A und B hätten beide einen Unfalltarif mit 500 % Progression und einer Grundsumme von 50.000 Euro. Ohne Mitwirkung würde für A eine Gesamtinvalidität von 40 % festgestellt, für B 70 %.

Üblicherweise wird nun die Progression einer Unfallversicherung in drei Stufen berechnet: (1) für die Invalidität bis 25 %, (2) für die übrige Invalidität zwischen 25 und 50 % und (3) für die verbleibende Invalidität über 50 %. Bei Tarifen mit 500 % Progression würde hier mit den Faktoren 1, 5 und 7 gerechnet (die ersten 25 % mal 1, die nächsten 25 % mal 5 und die restlichen 50 % mal 7 = 25 % x 1 + 25 % x 5 + 50 % x 7 = 500 % bei 100 % Invalidität).

Für A mit 40 % ergäben sich damit: 25 % x 1 (bleiben noch 15 %) + 15 % x 5 + 0 % x 7 = 100 %. Er erhielte also 100 % der Grundsumme = 50. 000 Euro.

Für B mit 70 % wäre die Rechnung: 25 % x 1 (bleiben noch 45 %) + 25 % x 5 (bleiben noch 20 %) + 20 % x 7 = 290 %. Bei 50.000 Euro Grundsumme würden also 145.000 Euro Versicherungsleistung fällig.

Doch was geschähe nun mit der Leistung für A und B, wenn hier eine Mitwirkungsquote von 30 % aus unserem Beispiel angerechnet würde? In den meisten Bedingungswerken würde nun ebenfalls nicht die Leistung oder der Invaliditätsgrad nach Progression gekürzt, sondern wieder der ermittelte Gesamtinvaliditätsgrad vor Progression: bei A also 40 % vermindert um 30 % = 28 %, bei B 70 % reduziert um 30 % = 49 %.

Folge: B würde die dritte Stufe der Progression mit nunmehr 49 % Invalidität gar nicht mehr erreichen. Statt auf 290 % käme er nur noch auf 25 % x 1 + 24 % x 5 = 145 %, was 72.500 Euro entspricht. 30 % Mitwirkung würden ihn also die Hälfte der Leistung kosten.

A fiele noch tiefer: seine auf 28 % gekürzte Invalidität ließe die Progression praktisch komplett ausfallen, denn die ersten 25 % würden nur mit Faktor 1 gewichtet, für den Faktor 5 blieben gerade noch 3 %; und so käme er statt auf 100 % plötzlich lediglich auf 25 % x 1 + 3 % x 5 = 40 % bzw. auf 20.000 Euro Leistung anstelle von 50.000 Euro – ein Abschlag von 60 %.

Wer nun die Grundsumme nach dem Leistungsversprechen des Tarifs bei der vollen Progression ausgewählt hatte (also z. B. 50.000 Euro, weil 250.000 Euro als ausreichend empfunden wurden), sieht sich einer ernstzunehmenden Versorgungslücke gegenüber.

 

Und nun?

Wer eine private Unfallversicherung hat und gesund ist, kann bei der Auswahl eines anderen Versicherungstarifs diesem Problem aus dem Weg gehen. Denn die guten Anbieter haben mittlerweise reagiert und Tarife an den Markt gebracht, die eine Mitwirkung erst dann berücksichtigen, wenn sie z. B. mindestens 50 oder 70 Prozent beträgt. Außerdem kürzen sie nicht den ermittelten Gesamtinvaliditätsgrad vor der Progression, sondern die berechnete Leistung nach der Progression. Zwei Anbieter haben sogar bereits einen vollständigen Verzicht auf die Mitwirkung in ihre Tarife aufgenommen.

Doch wer heute bereits Vorerkrankungen aufweist, die als schwerer oder chronisch einzustufen sind, wird kaum noch die Möglichkeit haben, in einen dieser besseren Tarife zu wechseln. Zwei Unfallversicherer verzichten aktuell zwar auf Gesundheitsfragen und bieten damit überhaupt die Chance auf Versicherungsschutz für Betroffene: doch ab 25 % Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen, die mit dem Unfall nichts zu tun haben, gilt hier die entsprechende Kürzungsklausel mit den oben beschriebenen Folgen.

Hier kann man also nur den genauen Wortlaut prüfen, die Grundsumme hoch genug ansetzen und eine evtl. Mitwirkung von Anfang an in die Berechnung möglicher Leistungen mit oder ohne Progression einbeziehen, um im Leistungsfall dennoch eine ausreichende Absicherung zu haben.

Außerdem empfiehlt es sich, die behandelnden Ärzte nach einem Unfall für diese Problematik zu sensibilisieren. Natürlich kann und soll kein Arzt ein falsches Attest ausstellen. Doch bei diagnostischen Unklarheiten oder Ermessensspielräumen kann dieses Wissen sicherlich hilfreich sein.